Im Erfahrungsraum des Alltags

Nicole Büsing und Heiko Klaas im Gespräch mit der in New York lebenden israelischen Malerin Tirtzah Bassel

Nicole Büsing und Heiko Klaas: Tirtzah, du hast in Jerusalem und Boston studiert. Könntest du uns ein wenig über dein Studium erzählen? Mit welchen Themen und Medien hast du dich an der Akademie beschäftigt? Welchen Einfluss hatten deine Lehrer auf deine Arbeit und deine künstlerische Denkweise?

     Tirtzah Bassel: Ich habe zunächst an der Jerusalem Studio School in Israel studiert. Das war damals ein aufregender und intensiver Ort. Wir haben acht Stunden am Tag nach Modellen gemalt. Einmal in der Woche wurden unsere Arbeiten dann beurteilt. An der Schule wurde viel Wert darauf gelegt, aus der Beobachtung heraus zu arbeiten. Gleichzeitig studierten wir aber auch die Techniken und den Bildaufbau der Alten Meister. Besonders wichtig für mich war dann ein Sommeraufenthalt in Italien. Hier habe ich zum ersten Mal die Fresken der Maler der Frührenaissance wie Giotto, Piero della Francesca, Masaccio und Fra Angelico in ihrer originalen Umgebung erleben dürfen. Was mich daran besonders faszinierte, war die Tatsache, dass diese Bilder geradezu körperlich mit den Gebäuden verschmelzen, denn wenn das Fresko trocknet, verbindet sich die Farbe mit der Wand. Gleichzeitig erweitern sie die Architektur auf bildhafte Art und Weise. Die Gebäude und die Bilder laden sich so gegenseitig mit Bedeutung auf. Darüberhinaus ist es eine grundlegend andere Erfahrung, in einer Kapelle zu stehen und von Wänden umgeben zu sein, die mit Fresken bemalt sind, als in einer Galerie oder einem Museum ein Gemälde zu betrachten, das einfach nur auf einer neutralen weißen Wand hängt.

Während der White Cube den Betrachter also bloß zum Kritiker oder Konsumenten macht, vermittelt ihm die Kapelle eine wesentlich immersivere und kontemplativere Erfahrung. Diese Erkenntnis weckte in mir den Wunsch, immersive Umgebungen zu schaffen, die von meinen Gemälden bewohnt werden.

Wie wirkte sich der Umzug nach Amerika auf deine Kunst aus? Was war dort anders als in Israel?

     TB: Im Jahr 2008 bin ich in die Vereinigten Staaten gezogen, um an der Boston University meinen Abschluss zu machen. Was mir als Erstes nach meinem Umzug nach Neuengland auffiel, war die Tatsache, dass hier ganz andere kulturelle Normen herrschten, was die räumliche Distanz zwischen Personen und das gegenseitige Berühren angeht. In Israel ist es zum Beispiel ganz normal, beim Schlangestehen in der Bank sehr eng zusammenzurücken oder Leute, die man kennt, bei der Begrüßung zu umarmen und zu küssen. In Boston war das völlig anders. Die Leute brauchten immer ganz viel Abstand, und es gab ganz andere Formen der gegenseitigen Berührung. Ich begann daher, mich für die körperlichen Beziehungen von Menschen im öffentlichen Raum zu interessieren, zum Beispiel für das Abtasten beim Sicherheitscheck am Flughafen oder auch das Verhalten von Friseuren gegenüber ihren Kunden. Diese Alltagssituationen zogen mich an. Es ging mir auch darum, zu beobachten, wie die räumlichen Verhältnisse die Art der interpersonellen Begegnungen diktieren.

Du hast dann eine ganze Weile mit so genanntem „Duct Tape“, also einem in Amerika omnipräsenten stabilen Gewebeband, direkt auf der Wand gearbeitet. Diese Arbeiten waren vom Ansatz her eher bildhauerisch und installativ. Was hat dich dazu bewogen, dein methodisches Spektrum zu erweitern?

     TB: Als Künstlerin bin ich mir der Tatsache bewusst, dass die Verwendung eines bestimmten Mediums unmittelbare Auswirkungen darauf hat, wie wir etwas wahrnehmen. Meine Ausbildung als Malerin konzentrierte sich zunächst auf das traditionelle Medium der Ölmalerei. Irgendwann erreichte ich jedoch einen Punkt, an dem ich den Eindruck hatte, mit meiner Malpraxis in einer Sackgasse angekommen zu sein. In dieser Situation hat mir ein Künstlerkollege, der mich gerade im Atelier besucht hatte, vorgeschlagen, eines meiner kurz zuvor fertiggestellten Bilder einfach mal in ein Medium zu übersetzen, das ich vorher noch nie benutzt hatte. Zufällig lag etwas „Duct Tape“ bei mir im Studio herum. Ich nahm es also und experimentierte damit. Sofort war ich von seinen skulpturalen Qualitäten fasziniert. Mit dem Klebeband konnte ich plötzlich sehr schnell und im großen Maßstab arbeiten. Und auf der konzeptuellen Ebene korrespondierte das Ephemere des Klebebands mit der Zeithaftigkeit der Räume, für die ich mich interessierte, zum Beispiel die Sicherheitsschleusen in Flughäfen oder auch Grenzübergänge. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass mir das „Duct Tape“ Wege eröffnete, Bilder zu schaffen, die mit den Räumen, in welchen sie sich befanden, verschmelzen konnten, ganz ähnlich eigentlich wie die Fresken, die ich als Studentin in Italien gesehen hatte. Diese Erkenntnis weckte in mir den Wunsch, vermehrt großformatige und ortsspezifische Installationen zu machen, die oftmals politisch und gesellschaftlich aufgeladen waren.

Hast du in dieser Zeit aufgehört zu malen?

     TB: Das geschah gleichzeitig. Ich habe nie aufgehört, mit Ölfarbe im Atelier zu malen. Allerdings beeinflussten meine Erfahrungen mit dem „Duct Tape“ zunehmend auch meine malerische Praxis. Zunächst weckte das „Duct Tape“ meinen Appetit darauf, im größeren Maßstab zu arbeiten. Meine Ölgemälde, die zunächst eher das Format von kleinformatigen Fenstern hatten, entwickelten sich jetzt zu großformatigen Leinwänden, die eher wie immersive Environments funktionierten. Das „Duct Tape“ zwang mich außerdem dazu, innerhalb eines fest definierten Zeitrahmens zu arbeiten. Außerdem steht nur eine bestimmte Palette von meist kräftigen Farben zur Verfügung. Auch das hat sich auf meine Malweise ausgewirkt. Andererseits erlaubt die Ölmalerei eine wesentlich komplexere und nuanciertere Arbeitsweise. Diese wirkt zwar bisweilen chaotisch, bringt aber letzten Endes ganz neue und überraschende Bildideen hervor. Das wiederum hat dann häufig wieder Eingang in die Bildsprache gefunden, die ich bei den ortsspezifischen Arbeiten benutze. Insofern kann man sagen, dass die verschiedenen Medien sich immer wieder wechselseitig befruchten.

Könntest du diesen Mehrwert genauer beschreiben?

     TB: Ich habe irgendwann gemerkt, dass mich das Experimentieren mit neuen Medien wieder zur Anfängerin werden lässt. Ich bin also gezwungen, ganz grundlegende Dinge neu zu erlernen. Das Gute daran ist, dass ich nicht einfach in meine üblichen Gewohnheiten zurückfallen kann. Meine Arbeitsweise wird dadurch immer wieder neu aufgefrischt. Aus diesem Grund arbeite ich auch gerne mit einfachen Medien wie Bunt- oder Filzstiften. Außerdem benutze ich auch Zeichen-Apps für das iPad. Zunächst betrachtete ich diese Experimente gar nicht als Teil meiner eigentlichen Praxis. Dann stellte ich aber fest, dass sie, ähnlich wie das „Duct Tape“, doch großen Einfluss auf meine Arbeit haben. Ein Beispiel: Nachdem ich eine ganze Weile schon Pleinairzeichnungen mit dem iPad gemacht hatte, wies mich ein Freund darauf hin, dass meine großen Gemälde im Atelier die gleichen intensiv leuchtenden Hintergründe hatten. Da wurde mir klar, dass ich ganz unbewusst versucht hatte, die LED-Hintergrundbeleuchtung des iPad-Bildschirms auf der Leinwand nachzuempfinden, mit dem Effekt, dass auf meinen Gemälden plötzlich ganz neue und überraschende Beziehungen zwischen den Farben entstanden.

Wie gehst du bei der Motivsuche vor? Woher kommen deine Bildideen?

     TB: Meine Bildideen finde ich oft mitten im Alltag. Ich beobachte zum Beispiel eine banale Situation und urplötzlich erscheint mir das Ganze merkwürdig. Das Bild „IKEA Bedroom“ zum Beispiel beruht auf ein paar schnellen Zeichnungen, die ich gemacht habe, als ich ein Paar im Möbelgeschäft dabei beobachtete, wie sie eine Matratze testeten. Was mich dabei faszinierte, war der scharfe Kontrast zwischen der Intimität ihrer Bewegungen und dem öffentlichen Charakter des Ortes. Ich habe mich dann ganz auf das Spezifische ihrer Körpersprache und die spezielle Farbpalette der Einrichtung konzentriert. Zurück im Atelier, lieferten mir dieses Skizzen die Grundlage dafür, verschiedene mögliche Kompositionen durchzuprobieren. So kontrastierte ich die sinnliche Qualität eines Ölgemäldes mit der Austauschbarkeit des Shop-Designs. Die sich wiederholenden Muster der Möbel wurden für mich zu formalen Bausteinen für die Konstruktion des Gemäldes, gleichzeitig aber auch zu Platzhaltern, mit denen ich auf konzeptuelle Art und Weise die Strukturen untersuchen konnte, die unseren Alltag formen.

In deinen neueren Bildern konzentrierst du dich auf Situationen, die uns allen aus der täglichen Routine vertraut sind: die Schlange an der Supermarktkasse, öffentliche Wartezonen, die Sicherheitsbereiche von Flughäfen. Warum interessierst du dich speziell für diese Art von Situationen?

     TB: Ich bin fest davon überzeugt, dass man als Künstlerin in der privilegierten Position ist, die Wahrnehmung der Realität auf grundlegende Art und Weise zu hinterfragen. In diesem Sinne steht meine künstlerische Praxis in einer Traditionslinie von einflussreichen Künstlern, deren Methode auf der Alltagsbeobachtung beruhte. So zum Beispiel Jean Siméon Chardin, Edgar Degas, Gwen John, Lucian Freud, Alice Neel, Alex Katz, Lois Dodd, Kerry James Marshall, Josephine Halvorson, Celeste Dupuy-Spencer und Lynnette Yiadom-Boakye, um nur einige zu nennen. Sie alle haben unsere Aufmerksamkeit auf Aspekte des Alltagslebens gelenkt, die auf den ersten Blick gewöhnlich erscheinen. Gleichzeitig zwingen uns ihre Bilder aber dazu, das Gesehene auf fundamentale Art und Weise neu zu bewerten.

Die Orte, die du wählst ähneln sich in ihrer Austauschbarkeit und Identitätslosigkeit. Ein Symptom unserer Zeit?

     TB: Was mich speziell dazu veranlasste, mich der Beobachtung von Räumen zuzuwenden, die meistens übersehen werden, ist deren schiere Omnipräsenz. Der französische Anthropologe Marc Augé benutzt den Terminus „Nicht-Orte“, um Räume zu definieren, die für unsere globalisierte Welt typisch sind: Flughäfen, Autobahnen, Supermärkte und der öffentliche Nahverkehr. Er beschreibt sie als Orte, die »keine Identität besitzen und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lassen«. Diese Orte, an denen wir einen zunehmend großen Teil unseres Lebens verbringen, sind so gestaltet, dass sie überall sein könnten. Jedes Starbucks Café ist so eingerichtet, dass es einen an alle anderen Starbucks Cafés erinnert, ganz unabhängig von der spezifischen Kultur und Geschichte des Gebäudes, in dem es sich tatsächlich befindet. Im Ergebnis führt das zu einer merkwürdigen Entkoppelung zwischen unserer sinnlichen Erfahrung und unserem Identitätssinn, was wiederum einen erheblichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung haben kann. Indem ich zeichne, befreie ich mich von den Benennungen dessen, was ich konkret sehe. Gleichzeitig tauche ich aber vollkommen in die Fremdartigkeit dessen ein, was ich beobachte. Dieser Prozess der Abkopplung vom Gewohnten bringt am Ende eine erstaunliche Schönheit von nicht zu benennenden Farben und unerwarteten Formen hervor. Er macht aber auch Strukturen sichtbar – Absperrpfosten etwa, die die Reisenden beim Sicherheitscheck einpferchen, Sichtschutzwände, die Arbeitskollegen voneinander abgrenzen, Selfie-Rituale, die sich über intime Momente legen und sie so zerstören – all das sind die offensichtlichen, aber häufig übersehenen Rahmenbedingungen unserer Existenz. Indem ich zeichne und male, betone ich die unverzichtbare Rolle unseres Körpers, unseren Gesichtssinn und unsere Fähigkeit, einander zu berühren. Es kommt doch heute darauf an sich von der vorgeformten Realität abzugrenzen und seine Eigenständigkeit zurückzuerobern.

Liebe Tirtzah, wir danken dir für das Gespräch.