Die Farbe an ihre Grenzen treiben

Nicole Büsing und Heiko Klaas im Gespräch mit dem italienischen Maler Rudy Cremonini

Rudy, du hast an der Kunstakademie in Bologna studiert. Könntest du uns ein wenig über dein Studium dort erzählen?

     Rudy Cremonini: Ich habe bereits mit 17 Jahren zu Hause in der Garage mit dem Malen angefangen. Das war eigentlich eine ganz instinktive und autonome Entscheidung. Das Studium selbst war keine besonders glückliche Zeit. Ich befand mich damals in einer komplexen, sehr schwierigen und konfusen Phase. Ich habe die Akademie auch nicht regelmäßig besucht und das Malen zwischenzeitlich sogar ganz aufgegeben, um mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen wie Fotografie, Video und Performance zu experimentieren. Zum Ende meines Studiums bin ich dann allerdings zur Malerei zurückgekehrt. So habe ich zwar einerseits viel Zeit verloren, andererseits aber habe ich sowohl meine Kunst, als auch meine Persönlichkeit auf eine breitere Basis gestellt.

Welche kunsthistorischen Vorbilder sind für dich von Interesse? Man erkennt zum Beispiel eine gewisse Verwandtschaft mit Malern des Symbolismus wie Edvard Munch, Odilon Redon oder Félix Vallotton. Stimmt dieser Eindruck?

     RC: Ja, das sind Künstler, die ich sehr bewundere. Ich würde auch noch Maurice Denis dazuzählen. Allerdings habe ich auch eine große Leidenschaft für Künstler, die weit davon entfernt und ganz anders sind. Zum Beispiel liebe ich die Sujets und die Malweise von Manet, die räumlichen Begrenzungen, innerhalb derer er seine Bilder komponiert. Aber auch die Wucht und Freiheitsliebe bei Goya oder das zart abgestufte Licht bei Morandi. In jedem dieser Meister entdecke ich auch einen kleinen Teil von mir oder doch zumindest etwas, das meinen Neigungen entspricht. Das ist für mich wie die permanente Suche nach kleinen, in der Geschichte versteckten Spiegeln, auf denen ich dann meine eigene Bilderwelt wiederfinde.

An welchen zeitgenössischen Künstlern bist du interessiert?

     RC: Jedem großen Meister, egal ob zeitgenössisch oder historisch, kann man etwas abgewinnen, einen bestimmten Aspekt vielleicht, so, als würde man in einen Spiegel hineinschauen. Plötzlich hat man dann etwas verstanden und weiß, wie man es richtig machen kann. Ganz offensichtlich gibt es da natürlich Haltungen, die augenfälliger und von treibenderem Interesse als andere sind. So etwas finde ich etwa bei Luc Tuymans, Mamma Andersson, Wilhelm Sasnal, Marlene Dumas oder Victor Man. Um sein Spektrum zu erweitern, macht es oft Sinn, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die sich von dem, was man selbst macht, stark unterscheiden.

Gibt es andere Inspirationsquellen? Wie zum Beispiel Kino, Theater, Literatur?

     RC: Ich beziehe Anregungen aus der Psychotherapie und dem aktuellen Zeitgeschehen.

Zu deiner Arbeitsweise: Was sind die Vorstufen deiner Arbeit? Entstehen Skizzen, Fotografien oder Zeichnungen?

     RC: Bei der Suche nach einem Bildthema spielt zunächst einmal eine gewisse Art von Zufall eine Rolle. Dann drucke ich meistens etwas aus, in Schwarz-Weiß und in ganz niedriger Qualität. Manchmal fange ich dann an, direkt auf diese Bilder zu malen. Ich zeichne aber nie, stattdessen arbeite ich direkt auf der Leinwand. Ich lege die Komposition zunächst in einer sehr flüssigen und transparenten Malweise an. Ohne rigide Festlegungen. Bei mir ist immer alles sehr in Bewegung und voller Veränderungspotenzial.

Du malst ja ausschließlich mit Ölfarben. Kannst du uns diese Vorliebe ein wenig erklären?

     RC: Ich habe von Anfang an mit Öl gemalt. Zwar habe ich zwischendurch einmal eine Serie in Acryl versucht, ich bin dann aber direkt danach wieder zu meiner bevorzugten Farbe zurückgekehrt. Mittels Öl gelingt es mir, selbst zu etwas Flüssigem zu werden, gewissermaßen über die Leinwand zu gleiten. Nahezu gedankenverloren gelingt es mir, meine Ideen und  die Bilder miteinander in Einklang zu bringen. So schaffe ich es, mit dem Material eine intime Beziehung einzugehen: Mal fordere ich es heraus, mal lasse ich es gewähren, ich bringe es zur Weißglut, und es antwortet auf seine ganz eigene Art und Weise – manchmal auch, indem es sich gegen mich auflehnt.

Dein Pinselstrich ist häufig sehr pastos und dicht. So entstehen kraftvolle Strukturen zwischen Konkretheit und Abstraktion, eine gewisse Ambivalenz, die für dein Werk typisch zu sein scheint. Könnte man behaupten, dass diese dem Öl eigene Materialeigenschaft für dich die Überlegenheit dieser Farbe ausmacht?

     RC: Die Überlegenheit eines Materials bestimmt der, der es verwendet. Aber es stimmt, für mich ist es genau so. Ich habe mit der Ölfarbe einen sehr lebhaften Dialog etabliert. Häufig macht sie mir Lösungsvorschläge, auf die ich nie und nimmer gekommen wäre. Und so zwingt sie mich, diese zu akzeptieren. Infolgedessen eröffnet sie mir immer wieder neue Ansätze, denen ich folgen kann, um unser besonderes Verhältnis noch weiter auszubauen. Die Intimität dieser Beziehung bestimmt so auch die Einzigartigkeit der Ergebnisse. Oder anders ausgedrückt: Sie ist mein ganz persönlicher Filter, den ich benötige, um meine Malerei immer mehr zu größerer Klarheit voranzutreiben.

Auf deinem Gemälde "waiting room (blue)" zeigst du einen verlassenen Wartesaal. Er könnte Teil eines Flughafengebäudes sein. Dem Betrachter fällt sofort ein Vogelschwarm auf, der sich nicht nur außerhalb sondern auch innerhalb dieses Wartesaals befindet. Offensichtlich sind die Fenster zerbrochen. Die Natur scheint sich den vom Menschen gestalteten Raum zurückzuerobern. Inwiefern interessiert dich die Opposition zwischen Natur und Zivilisation?

     RC: Die Frage, ob die Fenster kaputt sind oder nicht, ist eigentlich gar nicht so wichtig. Eigentlich weiß ich das selbst gar nicht genau. Es ist ja Malerei. Mir kam es viel mehr darauf an, mit diesem Bild eine Aussage über die Wahrnehmung von Zeit zu treffen. Es gibt da diesen Wartesaal, statisch, vollkommen leer, diese ganze Schwere des endlosen Wartens, die im denkbar größten Kontrast zu dem Vogelschwarm steht, der sich diesen Raum auf der Leinwand innerhalb von maximal vier Sekunden erobert. Mir ging es darum, eine Reibung zwischen diesen sehr unterschiedlichen Stimmungen und Zeitwahrnehmungen herzustellen. Insofern ist der Eindruck korrekt, dass es hier um eine Auseinandersetzung zwischen zwei sehr unterschiedlichen und in Opposition zueinander stehenden Kräften geht.

Man hat den Eindruck, dass du eine gewisse Affinität zu existenziellen Themen hast: Leben und Tod, die Liebe, das isolierte Individuum, der Kampf des Menschen gegen die Elemente (zum Beispiel auf dem Bild "in acqua"), das Memento mori. Wie kommst du auf deine Themen? Warum bevorzugst du eher die etwas düstere Stimmungslage?

     RC: Meine Suche nach Bildthemen ist eigentlich immer vom Zufall geleitet. Ich versuche dabei, mein klares Bewusstsein eher etwas auszuschalten. Am Ende kommen dabei die unterschiedlichsten Aspekte eines Grundthemas heraus, das tatsächlich das ganze Werk durchzieht. Auf den ersten Blick mögen das dunklere Themen sein. Aber diese verfügen auch über eine enorme Tiefe, und je stärker sich diese herausschält, desto mehr Klarheit und Prägnanz entwickeln sie auch. Ich nähere mich Orten an, an denen es möglich ist, sich zu verstecken oder auch Schutz zu suchen. Abgeschirmte Orte zwar, an denen die jeweiligen Protagonisten der Bilder, seien es Tiere in einem Zoo oder tropische Pflanzen in einem Gewächshaus, jedoch sicher sind. Alles hat eben seinen Preis.

Vielleicht magst du uns ein wenig über deinen Gebrauch der Farbe erzählen. Man gewinnt den Eindruck, dass du eher die etwas gedeckteren, weniger intensiven Farben bevorzugst. Welche Gründe gibt es für diese freiwillige Zurückhaltung?

     RC: Ich kann mit uneindeutigen Farben einfach freier arbeiten. Diese Art der Verwendung vermeidet Festlegungen, und sie lässt Raum für ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen. Ich bin daran interessiert, die Farben an ihre Grenzen zu treiben. Auch das ist Teil der engen Beziehungen, die ich zu ihnen pflege.

Uns interessiert auch die Art und Weise der Entstehung deiner Bilder. Wie lange benötigst du normalerweise dafür, um ein Bild zu malen?

     RC: Sobald ich ein Bildthema gefunden habe, das mich interessiert, entsteht für mich quasi ein Zwang, mich damit auseinanderzusetzen und es innerhalb der kürzestmöglichen Zeit und mit einem Minimum an Anstrengung zu bearbeiten. Das gelingt mir jedoch nicht in jedem Fall: Für einige Bilder benötige ich bis zu zwei Jahre. Ich überlasse sie zwischendurch erst einmal sich selbst. Danach hole ich sie wieder hervor und beende sie. Auch wenn ich ein Bild übermale, versuche ich, es innerhalb der kürzestmöglichen Zeitspanne fertigzustellen. Andernfalls würde ich die Unmittelbarkeit und Natürlichkeit meiner Malweise, die ganz wesentlich den Charakter meines Werkes ausmacht, verlieren.

Du hast auch eine gewisse Vorliebe für Serien. Zum Beispiel bei den Bildern "twink for money" und "tank (1-3)". Könntest du uns etwas über die Methode, ein Thema zu variieren, erzählen?

     RC: Ganz klar handelt es sich dabei um Vertiefungen, um Akte der malerischen Wiederholung. Das sind feste Ausgangspunkte, an denen ich verweilen und nachdenken muss. Davon gibt es viele. Mit der Zeit verändern sie sich, manchmal verbinden sie sich zu etwas, manchmal streben sie aber auch wieder auseinander.

Deine Titel sind einerseits ganz sachlich (zum Beispiel "due finestre" oder "due cimi"), andererseits aber auch voll von Poesie, Rätselhaftigkeit und Geheimnissen (zum Beispiel "never can say goodbye"). Wie kommen sie zustande?

     RC: Manchmal verspüre ich die Notwendigkeit, mit einem vielleicht etwas didaktischen Titel etwas zu konkretisieren. Fast so wie in einem Archiv oder Ablagesystem. Andererseits bereitet es mir aber auch Vergnügen, eine poetischere Lesart vorzuschlagen. Es sind immer Startpunkte für einen viel umfangreicheren Diskurs, der sich möglicherweise erst in der Zukunft vollenden wird.

Welche Rolle spielen autobiografische Motive wie Lebensereignisse, Träume oder Ängste in deiner Malerei?

     RC: Alles ist völlig autobiografisch. Ich habe aber selbst ziemlich lange, ungefähr sechs Jahre, benötigt, um zu verstehen, worum es in meiner Arbeit eigentlich geht. Zunächst einmal ging es mir bloß darum, Spannungsverhältnisse, gegenläufige Kräfte zum Ausdruck zu bringen. Erst später habe ich dann gemerkt, dass das ja auch Spaß machen kann. Die Konflikte, um die es mir geht, benötigen genau dieses Maß an Vergnügen, um sie aufzurufen, zu entdecken und sich ihnen auszusetzen. Ich habe aber auch irgendwann verstanden, das es letzlich um die Suche nach Rettung geht. Sich den Konflikten zu stellen, ist der Preis, den man dafür bezahlen muss.

Wenn man deine in diesem Jahr entstandenen Arbeiten betrachtet, gewinnt man den Eindruck, dass du jetzt häufiger intensive Farben benutzt, zum Beispiel auf dem Gemälde "Sacred Hole". Dort sind einige Trauergestecke neben einem noch offenen Grab zu sehen. Könntest du diese (neue) Vorliebe für intensivere Farben ein wenig erläutern?

     RC: Ich bin keineswegs der alleinige Herr über das, was die Arbeit mit den Farben und der Leinwand hervorbringt. Ich könnte behaupten, je mehr ich das erkenne, desto mehr schälen sich bestimmte Farben und Kontraste heraus. Aber auch da bin ich mir wieder nicht ganz sicher. Wahrscheinlich benötigen manche Bilder ganz einfach eine größere Farbigkeit als andere. Eine eindeutige Erklärung dafür habe ich eigentlich nicht. Alles ist eher mehrdeutig.

Auf den neueren Bildern ist auch eine stärkere Tendenz zur Abstraktion zu erkennen. Stimmt dieser Eindruck?

     RC: Mir gefällt es einfach, das Gleichgewicht zwischen Abstraktion und Figuration unter Anspannung zu setzen und weiterhin in der Schwebe zu halten. Womöglich ist diese Anspannung mit der Zeit stärker geworden

Mit "Mercurio", "The Guided Treasure" und "Venere Dimenticata" zeigst du eine Serie mit Bildern antiker Skulpturen. Alle befinden sich in einem nicht klar ausformulierten Zustand. Sie wirken unfertig oder beschädigt. Könntest du diese Serie ein wenig erläutern?

     RC: Es sind eigentlich gar nicht so sehr die gezeigten Objekte, die deformiert oder unvollendet sind. Vielmehr ist es unser Bewusstsein oder die Art, wie wir die Dinge wahrnehmen. Dass wir Probleme damit haben, ihre Form korrekt zu lesen, liegt in unserer Art des Sehens begründet.

Interessant bei dieser Serie sind auch die Hintergründe. Warum hast du bestimmte Farben ausgewählt?

     RC: Da diese in einer Art Sicherheitszone, etwa in einem Museum, aufbewahrt, werden, habe ich mich bei den Hintergründen auf die vorgefundene Art der Szenografie bezogen. Mal war die Wandfarbe Rot, ein anderes Mal habe ich die Reflexionen wiedergegeben, die ich auf einer Vitrine gesehen habe.

Wir leben in unruhigen Zeiten: wirtschaftliche Krisen in vielen Ländern, auch in Italien, ein neuer Nationalismus, der Islamismus, Terrorismus, der neue US-Präsident Donald Trump. Empfindest du da als Künstler eine besondere Verantwortung, dich mit diesen Themen auseinanderzusetzen?

     RC: Indem ich sehr ernsthaft in meiner selbstgewählten Abgeschirmtheit arbeite, denke ich eher auf einer allgemeineren Ebene über diese Dinge nach und berühre mit meinem Werk Themen, die den Menschen und seine Welt betreffen. Alle aufgezählten Dinge sind zutiefst beängstigend und mit großen Unwägbarkeiten verbunden. Es handelt sich um widerstrebende Kräfte und menschliche Bedürfnisse, die leider von den verschiedensten Seiten instrumentalisiert werden.

Du lebst und arbeitest in Bologna, der Stadt, in der du auch geboren wurdest und wo du studiert hast. Welches Verhältnis hast du zu der Stadt? Verspürst du manchmal Lust, in eine größere Stadt zu ziehen?

     RC: Bologna ist eine sehr schöne Stadt. Sie verfügt über einzigartige Besonderheiten, gerade, was die Architektur betrifft. Hier kann man ein Licht und eine Vertrautheit genießen, die anderswo ihresgleichen suchen. Selbst im Sommer kann man hier im Halbschatten spazierengehen. Im Winter faszinieren mich die unzähligen Farbabstufungen auf dem Orange der Fassaden. Innerhalb Italiens hat es eine strategisch gute Lage. Es ist eine übersichtliche Stadt, aber gleichzeitig nicht zu weit entfernt von den großen Metropolen Mailand und Rom. Darüberhinaus ist man innerhalb von zehn Minuten am Flughafen.

Was planst du für 2017?

     RC: Auf jeden Fall werde ich dann häufiger nach Deutschland reisen.

Lieber Rudy, wir danken für das Gespräch.
Das Gespräch führten Nicole Büsing und Heiko Klaas.